Was ist Grenzbewusstsein

Ich fühlte mich grenzenlos, stand unter Dauerstress und fand mich häufig in der Helferinnenposition. Häufig gehörte Kommentare, um aus der Dauerschleife auszusteigen, waren z. B. ” Du übernimmst halt zu viel Verantwortung” oder “Sag halt Nein.” Kling plausibel, nur: Was bedeutet das denn genau? Und warum wollte mir die Umsetzung der Ratschläge einfach nicht gelingen? Heute weiss ich: Gesunde Abgrenzung und das Nein-Sagen wollen gelernt sein. Und die Basis dafür ist das Grenzbewusstsein.

Beim Grenzbewusstsein handelt es sich um das Bewusstsein für die eigene Grenze wie auch der Grenze von anderen. Die eigene Grenze – auch Ich-Grenze genannt – erfüllt verschiedene Funktionen und ist wichtig für unsere mentale und körperliche Gesundheit, denn ein gesundes Grenzbewusstsein kann Verausgabung und Erschöpfung verhindern. Ist die Ich-Grenze intakt, fällt auch Abgrenzung und Nein-Sagen leicht.

Einleitung

Jede Person besitzt diese Ich-Grenze. Es spielt dabei keine Rolle, ob sich eine Person ihrer eigenen Grenze bewusst ist oder nicht. Selbst wenn man sich der eigenen Grenze nicht bewusst ist, nimmt man dennoch Grenzüberschreitungen wahr. Das Gefühl der Grenzüberschreitung kann sich dabei unterschiedlich und individuell äussern: Wut, Ohnmacht, Verzweiflung etc. Das entstandene Gefühl signalisiert, dass da etwas sein muss, das – im Falle einer ungewollten Grenzüberschreitung – vom Gegenüber missachtet worden ist. Die Person kann das dabei entstandene Gefühl nicht einordnen und damit nicht verstehen, denn sie kennt ihre Grenze nicht. Sie weiss nicht, wie die Grenze aussieht und wo sie verläuft. Dies ist aber entscheidend, um Grenzverletzungen als solche erkennen und auch benennen zu können. Es braucht ein Bewusstsein für die Ich-Grenze.

Um dieses Grenzbewusstsein zu erlangen, braucht es einerseits ein Bild der eigenen Grenze sowie eine Vorstellung für die Verbindung zwischen dem, was geschieht, und dem, wie es sich persönlich anfühlt. Andererseits benötigt die Person einen Wortschatz, um befähigt zu sein, über die Grenze sprechen zu können. Wir können nur über das sprechen, wofür wir Worte haben. Und wir können nur verändern, was uns bewusst ist.

Das Grenzmodell nach Klaus Blaser vermittelt Bilder und ein Vokabular, die das Sprechen über die eigene Innenwelt und die Ich-Grenze ermöglichen. Das Modell geht von Folgendem aus:

  • Jede Person besitzt eine psychische Innenwelt.
  • Wenn es eine Innenwelt gibt, existiert auch eine Aussenwelt.
  • Um die Innen- von der Aussenwelt unterscheiden zu können, besitzt jede Person eine eigene Grenze.

Erst, wenn wir uns dieser Grenze bewusst sind – intellektuell und körperlich – kann es uns gelingen, gesundes Abgrenzen (und damit Nein-Sagen) zu lernen und umzusetzen. Nur in Verbindung mit sich selbst, mit den eigenen Gefühlen und Gedanken, und im Austausch mit der Umwelt kann eine Person sich überhaupt abgrenzen. Es geht dabei darum zu verstehen, wo wir uns räumlich gerade befinden und wohin unsere Aufmerksamkeit gerichtet ist. Im Ganzen existieren drei mentale Räume: die eigene Innenwelt, die Innenwelt des Gegenübers und der Raum dazwischen, die Aussenwelt.

Schauen wir uns im Folgenden die einzelnen Elemente des Grenzmodells nach Klaus Blaser im Detail an:

Das Grenzmodell nach Klaus Blaser

Drei Räume

Befindet sich eine Person in ihrer eigenen Innenwelt, ist sie ganz bei sich. In der Innenwelt jeder Person befinden sich die inneren psychischen Elemente, die das intrapsychische System der Person bilden und die auch zwischen Personen ausgetauscht werden können. Die folgenden sechs Elemente können unterschieden werden: 

  1. Bilder – visuelle, taktile, akustische und Geruchsbilder; Bilder davon, wie wir die Welt sehen; Männerbilder, Frauenbilder, Beziehungsbilder etc.
  2. Erfahrungen ­– selbst Erlebtes und Erfahrenes, aber auch Erfahrungen, die durch Lehrpersonen, Trainingsleitende, Coaches, etc. als Wissen vermittelt werden.
  3. Gefühle – aktuelle, alte und fremde Gefühle; Freude, Wut, Trauer, etc. 
  4. Ansichten – Normen, Werte und Glaubenssätze.
  5. Aufgaben – innerhalb der Familie zu erledigende Hausarbeiten oder Aufträge gemäss Jobbeschrieb im Beruf. Als Elternteil besteht z. B. auch die Aufgabe, ab und zu die Innenwelt des Kindes aufzuräumen, da das Kind dies noch nicht selbst kann; mit dem Älterwerden wird die Aufgabe langsam dem Kind übertragen, bis es als erwachsene Person diese Aufgabe ganz übernehmen kann und das Elternteil die Aufgabe ganz übergibt.
  6. Verantwortungen – z. B. können im Beruf aus den definierten Aufgaben bestimmte Verantwortungen entstehen. Oder als erwachsene Person gibt es die Verantwortung, fürs eigene Wohlbefinden zu sorgen.

Zusammenfassend nennen wir die sechs Elemente die BEGAAV-Elemente. Sie sind untereinander miteinander verbunden und bilden das intrapsychische System. Dieses wird durch eine Grenze zusammengehalten und es versucht, sich in Balance zu halten. Verändert sich eines der Elemente, kommt das System in Bewegung und auch die anderen Elemente verändern sich.

Tritt eine Person von ihrer Innenwelt mental in die Aussenwelt, bewegt sie sich in den kognitiven Modus, in dem die Person rational denken und handeln kann. Sie kann analysieren, reflektieren, planen, Probleme lösen, den Alltag organisieren, etc. Auch sämtliche gedankliche Beschäftigung mit der Vergangenheit oder mit der Zukunft findet in der mentalen Aussenwelt statt, was bedeutet, dass die Person in diesen Momenten nicht bei sich respektive gerade nicht mit ihrer Innenwelt verbunden ist.

Jede Person besitzt eine Innenwelt und jeder Person ist es grundsätzlich möglich, sich räumlich zwischen Innenwelt und Aussenwelt zu bewegen. Es kann zu Einschränkungen der Bewegungsfreiheit kommen. Wenn eine Person z. B.  an einer Depression erkrankt ist, erschwert die Krankheit ein Heraustreten in die Aussenwelt wie auch die Nutzung der gesamten eigenen Innenwelt; die Person ist auf einen kleinen Teil ihrer Innenwelt zurückgezogen. Ein anderes Beispiel wäre eine unter Aufputschmitteln stehende Person, der es gerade nicht möglich ist, in ihre Innenwelt zu treten, und die sich mit ihrer Hyperaktivität nur in der Aussenwelt bewegt.

Es gibt einen dritten Raum, in den eine Person gehen kann, nämlich die Innenwelt einer anderen Person. Die Grenzüberschreitung in einen fremden Garten kann erlaubt oder unerlaubt erfolgen.

Die Gartenmetapher

Um uns die Innenwelt besser vorstellen zu können, hilft uns die Metapher eines inneren Gartens. Dieses Bild veranschaulicht folgende Aspekte:

  • Ein Garten ist etwas Lebendiges. Pflanzen gedeihen und wachsen oder verkümmern, je nachdem, wie wir uns um unsere Innenwelt kümmern. Das Lebendige ist ständig in Bewegung.
  • Ein Garten lässt sich pflegen und verändern. Pflanzen können entfernt, umgesetzt oder neu gepflanzt werden. Dies symbolisiert die Gestaltungsmacht, die wir in unserem Inneren besitzen. 
  • Ein Garten besitzt eine klar umrissene Fläche. Er hat eine Grenze, die ihn von der Umgebung und von anderen Gärten abgrenzt. Auch diese Grenze ist gestaltbar und will gepflegt werden.
  • Die Gartengrenze (wie auch immer sie individuell aussieht) hat ein Tor, das man bewusst auf und zu machen kann. Durch dieses Tor tritt man selbst von der eigenen Innenwelt in die Aussenwelt und wieder zurück. Des Weiteren können auch andere Personen dieses Tor passieren, wenn wir sie in unsere Innenwelt reinlassen (gewollt oder ungewollt).
  • Im Garten gibt es ein Gartenhäuschen, in dem Dinge sorgfältig verwahrt werden können. Eigenes Belastendes kann so einen geeigneten Ruheort erhalten, damit im Garten Raum für Nährendes vorhanden ist.

Die BEGAAV-Elemente können wir uns im Garten als Blumen, Bäume, Gräser etc. vorstellen. Sie lassen sich ausreissen und umsetzen, man kann sie aber auch zurückgeben (fremdes BEGAAV-Element) oder verschenken (eigenes schönes BEGAAV-Element). Der innere Garten sollte bewirtschaftet und schön gestaltet werden, damit man sich darin gerne aufhält und ihn auch geniessen kann. Nur wenn einem darin wohl ist, möchte man auch viel Zeit darin verbringen.

Die Grenze

Die Grenze um unsere mentale Innenwelt, die sie zur Aussenwelt hin abgrenzt, erfüllt verschiedene Funktionen.

  • Sie bestimmt die Grösse und Form des inneren Gartens und kann damit auch als Gedächtnis fungieren, wenn sich z. B. irgendwo im Verlauf der Grenze eine Delle befindet. Diese kann darauf hinweisen, dass etwas vielleicht ausgeschlossen worden ist, was zum Garten dazu gehören würde.
  • Wie wir bereits weiter oben gesehen haben, hält die Grenze zudem das intrapsychische System zusammen. Dieses Zusammenhalten schafft eine Klarheit in der Zugehörigkeit; dank der Grenze kann es überhaupt gelingen zu unterscheiden, was zu einem gehört und was z. B. ein fremdes Gefühl ist, das ungewollt in der eigenen Innenwelt gelandet ist.
  • Dass Ungewolltes in der eigenen Innenwelt landet, davor soll uns unsere Grenze schützen. Wir können aktiv steuern, ob etwas bei uns platziert werden kann oder eben nicht.
  • Für die Unterscheidung, was wir in unsere Innenwelt lassen wollen und was wir abwehren, besitzt die Grenze eine Filterfunktion. Hier dürfen wir uns das oben erwähnte Gartentor der Gartenmetapher vorstellen, das mit dem Öffnen und Schliessen den Einlass zulässt oder nicht. So können wir entscheiden, Schönes und Nährendes aufzunehmen sowie Hemmendes und Kräftezehrendes in der Aussenwelt oder beim Gegenüber zu belassen.
  • Gelingt es uns, aktiv zu steuern, ob unser Gartentor offen oder zu ist, wird die Grenze uns auch Sicherheit und Geborgenheit geben; innerhalb des Gartens darf uns einfach wohl sein.

Wichtig zu erwähnen ist, dass eine Grenze immer auf zwei Seiten funktioniert: Sie schützt und filtert von aussen nach innen, aber eben auch von innen nach aussen. Das Gartentor wird nicht nur geöffnet und geschlossen für BEGAAV-Elemente, die von aussen nach innen getragen werden können. Es wird im Idealfall auch aktiv betätigt, wenn es darum geht, BEGAAV-Elemente, die sich im eigenen Garten befinden, nach aussen zu getragen.

Zu wissen, wo die Grenze verläuft, ermöglicht zudem, sich räumlich zu orientieren. Mit einer klaren Grenze weiss eine Person, ob sie sich innerhalb des eigenen Gartens, ausserhalb oder sogar im Garten einer anderen Person befindet. 

Genauso, wie eine Person ihren Garten gestalten und pflegen kann, damit sie ihr intrapsychisches System in Balance halten kann, hat sie die Möglichkeit, ihre Grenze zur Aussenwelt zu verändern. Sie kann sie in Material, Farbe oder Beschaffenheit modellieren und bestimmen, wie die eigene Grenze für andere von aussen aussehen soll. 

Achtsamkeit und leibliche Wahrnehmung

Wenn eine Person ganz bei sich ist, sich also mit ihrer Aufmerksamkeit in ihrer Innenwelt befindet, dann ist sie mit sich selbst, mit ihren BEGAAV-Elementen verbunden. Dies ist für die Person körperlich spürbar, was wir die leibliche Wahrnehmung (felt sense) nennen können. Die Gefühle oder Bilder können im Körper lokalisiert und nach ihrer Beschaffenheit, Farbe, Temperatur oder Bewegung abgefragt werden. Die Person ist in diesem Moment achtsam. Achtsamkeit bedeutet, mit der Aufmerksamkeit bei sich und im Jetzt zu sein. Es wird wahrgenommen, ohne zu werten.

Sobald eine Wertung dazukommt, befindet man sich im kognitiven Modus, also in der Aussenwelt, und ist nicht mehr in der Achtsamkeit. Mit dem Übertritt in die Aussenwelt löst sich auch die körperliche Verbindung mit den BEGAAV-Elementen. Man ist in der Lage Gefühle und Bilder zu erkennen, kann sie aber nicht mehr leiblich wahrnehmen.

Die zehn Modi der Aufmerksamkeit

Das Grenzmodell ist ein räumliches Modell, in dem eine Person sich zum einen bewegen und zum anderen ihre Blickrichtung verändern kann. Die Beschreibung des Standorts und der Blickrichtung wird Modus genannt. Ein Modus beschreibt:

  1. wo eine Person steht – in der eigenen Innenwelt, in der Aussenwelt oder in der Innenwelt einer anderen Person;
  2. wohin die Aufmerksamkeit der Person gerichtet ist – in die eigene Innenwelt, in die Aussenwelt oder in die Innenwelt einer anderen Person.

Die Differenzierung der verschiedenen Modi ist wichtig, um klar bestimmen zu können, wo eine Person sich mit ihrer Aufmerksamkeit gerade befindet. 

Aufenthalt in der eigenen Innenwelt

Befindet sich eine Person in der eigenen Innenwelt, ist sie im Modus der achtsamen Wahrnehmung. Dabei kann sie mit achtsamem Blick von innen nach innen schauen (Modus 1, ‘mindful introspection’) oder mit achtsamem Blick von innen nach aussen (Modus 2, ‘mindful awareness of the external’). Modus 3 der achtsamen Wahrnehmung nennen wir das Mitgefühl (‘compassion’). Mitgefühl kann beschrieben werden als die Fähigkeit, das Gefühl einer anderen Person tief nachfühlen zu können, ohne dass man selbst damit kämpft oder verknüpft ist. Das eigene Gefühl der anderen Person gegenüber ist dabei wohlwollend und liebevoll. Was konkret passiert, wenn wir Mitgefühl empfinden, ist, dass wir in ein achtsames Mitschwingen mit dem Gefühl des Gegenübers kommen. Die Voraussetzung dafür ist, dass wir ganz bei uns sind, d.h. dass wir mit uns selbst verbunden sind. Gleichzeitig muss auch die andere Person ganz bei sich und mit sich verbunden sein. Dann erst kann es zum Mitschwingen (und damit zum Mitgefühl) kommen.

In der Analogie des inneren Gartens können wir uns vorstellen, dass jede Person – wenn sie sich in ihrer Innenwelt befinden – jeweils eine Gitarre auf dem Schoss hat. Jede Gitarre ist dabei anders. Die Gitarren bestehen womöglich nicht aus demselben Material und auch die Saiten sind unterschiedlich beschaffen. Jede Gitarre hält die individuelle Geschichte ihrer Besitzerin inne. Aber jede Gitarre hat dasselbe Repertoire bezüglich der Grundgefühle, die sie anklingen kann (wie z. B. Trauer, Wut, Freude, etc.). 

Im Folgenden ein Beispiel für die Gitarrenmetapher: Person A befindet sich in ihrem Garten, ist also mit sich verbunden und hält ihre Gitarre A auf dem Schoss. Ihr gegenüber befindet sich Person B, die sich wiederum in ihrem Garten befindet und ihre Gitarre B auf dem Schoss hält. Person B hat kürzlich einen Verlust erlebt und ist mit ihrer Trauer verbunden; sie zupft auf ihrer Gitarre B die Trauersaite. Person A schaut mit achtsamem Blick zu Person B und sie nimmt die Trauer von Person B wahr, denn die Trauersaite ihrer Gitarre A hat zu schwingen begonnen. Sie ist sich bewusst, dass nicht sie ihre Trauersaite gezupft hat; es ist nicht ihr Trauergefühl, sondern das von Person B. Sie ist aber in Resonanz mit dem Gefühl von Person B. Und da die Saite von Gitarre A vibriert, kann sie das Trauergefühl auch körperlich wahrnehmen.

Was jetzt passieren könnte, ist, dass Person A die unangenehmen Körperempfindungen nicht aushält und deswegen ihre Innenwelt verlässt. Dies kann auch geschehen, wenn durch das Mitschwingen Person A mit ihrer eigenen Trauer konfrontiert wird. Vielleicht hat sie kürzlich ebenfalls einen Verlust erlitten und will daher nicht mit der Trauer von Person B mitschwingen. Person A geht dann in die Aussenwelt und löst damit ihre Verbindung zu ihrem Gefühl. Beim Verlassen der Innenwelt bleibt die Gitarre in der Innenwelt, womit Person A das Schwingen der Saiten nicht mehr leiblich wahrnehmen kann. 

Damit Person A also mit dem Mitschwingen zur Trauersaite von Person B gut zurechtkommt, muss sie mit ihren eigenen Gitarrensaiten gut zurechtkommen. Dies bedeutet, dass sie ihren eigenen Gefühlen zustimmen und diese annehmen kann. Dann gelingt es ihr, in ihrer Innenwelt zu bleiben. Im Umkehrschluss kann man auch folgern, dass je mehr wir uns achtsam in unserem Innenraum aufhalten und lernen unsere angenehmen und unangenehmen Gefühle anzunehmen, desto eher können wir mitfühlen.

Aufenthalt in der Aussenwelt

In der Aussenwelt ist die Person im Modus der kognitiven Wahrnehmung. Dabei gibt es auch hier verschiedene Blickrichtungen: Die Person kann die Metawahrnehmung einnehmen und von aussen in ihre Innenwelt blicken (Modus 4, ‘cognitive selfperception from the metaposition’). Sie kann aber auch Dinge im Aussen betrachten (Modus 5, ‘cognitive perception of the outer world’). Es ist ihr zudem möglich, sich zu überlegen, was eine andere Person gerade denkt (Modus 6, ‘Theory of mind’ oder kognitive Perspektivenübernahme), oder gedanklich zu entschlüsseln, was der emotionale Zustand der anderen Person gerade ist (Modus 7, ‘Theory-Theory’). In diesem Modus ist die Person nicht mehr mit ihren BEGAAV-Elementen verbunden. Auch hat sie ihre Gefühlsgitarre nicht bei sich, denn diese befindet sich immer nur im eigenen Garten. Es besteht also keine leibliche Verbindung zur eigenen Gefühlswelt; Gefühle werden im kognitiven Modus daher intellektualisiert und nicht mehr gefühlt.

Aufenthalt in der Innenwelt einer anderen Person

Tritt eine Person in die Innenwelt einer anderen Person, wechselt sie in den Modus der empathischen Wahrnehmung. Im empathischen Modus kann sie dabei die eigenen Gefühle durch die Gefühlsbrille der anderen Person betrachten (Modus 8), während sie sich in die andere Person einfühlt, Gegenstände und Situation aus der Sicht der anderen Person ansehen (Modus 9) oder empathisch-leibliche Empfindungen der Gefühle der anderen Person wahrnehmen (Modus 10). Es muss betont werden, dass im Grenzmodell eine klare Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen Mitgefühl und Empathie getroffen wird. Beim Mitgefühl befinden wir uns im eigenen Garten, bei der Empathie stehen wir aber im Garten der anderen Person. Daher handelt es sich bei der Empathie um einen anderen Modus.

Beim Mitgefühl befindet sich Person A im eigenen Garten und hat ihre Gitarre A auf dem Schoss. Wenn sie ihre Hand auf ihre Gitarrensaiten A legt, spürt sie die Vibration der Gefühle von Person B, die sich ebenfalls in ihrem eigenen Garten befindet und ihre eigene Gitarre B hält. Person B hat dabei die eigene Gefühlssaite angeschlagen und diese Schwingung hat sich auf die Gitarrensaite von Person A übertragen. Im Gegensatz dazu befindet sich Person A beim Modus der empathischen Wahrnehmung nicht im eigenen Garten, sondern im Garten von Person B. Sie fühlt sich in die Gefühls- und Gedankenwelt von Person B ein. Schlägt Person B, die sich in ihrem eigenen Garten befindet und ihre Gitarre B hält, eine Gefühlssaite auf ihrer Gitarre B an, kann Person A die Gefühle von Person B nur darüber wahrnehmen, dass sie ihre Hand direkt auf die Gitarre B von Person B legt. Wir sprechen dann nicht von Mitfühlen, sondern von Einfühlen. Dies hat eine intimere Qualität als das Mitfühlen; es ist unmittelbarer, da es keine Grenzen dazwischen hat. Zudem ist bei der Empathie zu unterscheiden, ob die Überschreitung der Grenze mit Erlaubnis – mit Einladung oder auf Anklopfen hin – passiert oder ob sie ohne Erlaubnis erfolgt (gewollte vs. ungewollte Grenzüberschreitung).

Die Dissoziationsskala

Sobald eine Person ihren Standort in die Aussenwelt verlagert (also durch ihr Gartentor den eigenen inneren Garten verlässt), ist sie im kognitiven Modus und von ihrer Innenwelt dissoziiert. Wie wir bereits wissen, ist dieser Modus für kognitive Fähigkeiten wie z. B. logisches Denken oder Handeln zwingend notwendig. Es gibt aber nicht nur ein Sein in der Innenwelt und ein Sein in der Aussenwelt. Der Standort in der Aussenwelt kann verändert werden, indem die Person näher an ihrer Innenwelt verweilt oder sich weiter von der Innenwelt entfernt. Diese Bewegung wird mit der Dissoziationsskala veranschaulicht, die von 0 bis 100 geht. Ein Radius bis zu 30 kann noch als im Bereich der nützlichen Dissoziation verstanden werden, wo logische oder reflektierende Denkfähigkeiten konzentriert und effizient geschehen. Vergrössert sich die Distanz zur Innenwelt aber darüber hinaus, fängt die Konzentration an zu leiden und die Person wird zunehmend unruhiger und fahriger. Verschiedene Krankheitsbilder können auf der Dissoziationsskala in Zusammenhang mit bestimmten Entfernungen von der eigenen Innenwelt beobachtet werden, wie z. B. ADHS bei ca. 35-50 bis hin zu psychotischen Episoden bei der Entfernung 100.

Eine Person kann sich sowohl von der eigenen Innenwelt in die Aussenwelt und zurück bewegen als auch in der Aussenwelt näher an die eigene Innenwelt oder weiter weg gehen. Die Hinbewegung zur Innenwelt nennt sich zentripetal, die Wegbewegung zentrifugal. Für beide Bewegungsrichtungen gibt es förderliche oder eben nicht förderliche Faktoren. 

  • Zentrifugale Faktoren beinhalten: Ablenkung durch soziale Medien, Koffein, Alkohol, Nikotin Kokain, LSD, Sport wie Fussball oder Kickboxen, Lärm, Beschleunigung, Stress, Multitasking, aufputschende Musik.
  • Zentripetale Faktoren beinhalten: Beruhigende Musik, Sport mit repetitiven Bewegungen wie Joggen, Ruhe, Stille, Natur, Yoga, Meditation, Entschleunigung, Monotasking, manuelle Tätigkeiten wie malen, gärtnern, kochen oder schreiben, Kräutertee, kaltes Wasser.

Schlafen kann ebenfalls zu den zentripetalen Faktoren gezählt werden, da wir uns während des Schlafens in unserem Garten befinden. Unser Träumen kann dabei als das Aufräumen im eigenen Garten verstanden werden.

Lässt sich das Grenzbewusstsein stärken?

Viele durften als Kind keine gesunde Grenze aufbauen. Dies kann sich in diversen Empfindungen und Handlungsmustern widerspiegeln, wie z. B.:

  • Übernehmen von zu viel Verantwortung, auch wenn eine Aufgabe zu einer anderen Person gehört.
  • Ständiges Ja-Sagen und Helfen, obwohl man etwas gar nicht machen möchte.
  • Sich grenzenlos fühlen und nicht erkennen, ob ein Gefühl ein eigenes oder ein fremdes Gefühl ist.
  • Gefallen wollen, um sich gut zu fühlen, sich dabei aber gar nicht wirklich gut fühlen.
  • Sich für die Gefühle und Reaktionen anderer verantwortlich fühlen.

Die gute Nachricht ist: Wir besitzen die Fähigkeit, Dinge zu verlernen, umzulernen oder ganz neu zu lernen. Dafür gibt es verschiedene Wege wie z. B. Coaching, Kurse, Training oder Therapien. Auch können verschiedene Aspekte betrachtet werden, je nachdem, wo eine Person in ihrem Wachstum steht und woran sie gerade arbeiten möchte.

Möchtest Du lernen, wie Du Dich gut abgrenzen und gesund Nein sagen kannst?

Meine Überzeugung zum Grenzbewusstsein

Ich bin überzeugt davon, dass es am Ende des Tages für uns alle einfach darum geht, dass wir uns in uns selbst sicher fühlen und mit uns selbst verbunden sind. Die Entdeckung des Grenzbewusstseins und das Training zur Stärkung der eigenen Grenzen waren für mich entscheidende Wendungen auf meinem ganz persönlichen Weg von grenzenlos und für alle durchlässig zu klar und sicher in mir selbst. Es ist mein Herzensthema und meine Leidenschaft, mein erlerntes Wissen an andere weiterzugeben.

Ich habe folgende Erfahrung gemacht:

  • Ganz bei mir selbst zu sein, bedeutet, dass ich auch fähig bin, Mitgefühl zu zeigen.
  • Mit mir selbst verbunden zu sein, hat zur Folge, dass ich mich auch viel mehr mit anderen verbunden fühle.
  • Je besser ich mich um meine Innenwelt kümmere, desto besser geht es mir.
  • Wenn ich ganz bei mir bin, fühle ich mich stark und zufrieden.


Die obenstehende Theorie zum Grenzmodell basiert auf dem Buch:

Blaser, Klaus. (2020). Sag Ja zum Nein sagen: Das Trainingsprogramm zur Stärkung der eigenen Grenze. Klett-Cotta, Stuttgart.

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Hi, ich bin Sonja – Life Coach für Resilienz, Grenzen & Gelassenheit.

Ich bin Wissensvermittlerin, Unterstützerin, Ermutigerin, ewig Lernende, Entdeckerin & Kreative wohnhaft in Langenthal.

Mein Interesse gilt mentaler und seelischer Gesundheit. Meine Leidenschaft ist die Frage nach dem gelingenden Leben und einer Alltagsgestaltung, die dem Menschen in seiner Ganzheit dient. Dabei geht es für mich u.a. um Stress, Resilienz, Selbstfürsorge und Grenzen. Ein Kernpunkt für mich ist eine gesunde Ich-Grenze, die wohlwollendes Neinsagen und Gelassenheit ermöglicht. Meine Vision: Ein Alltag und ein Leben, von dem wir keine Ferien brauchen.

Erfahre hier mehr über mich. Zudem freue ich mich immer über einen fruchtbaren Austausch. Lass uns gemeinsam auf Entdeckungsreise gehen!